Dead White Man’s Clothes - Moeon

Dead White Man’s Clothes

Fast Fashion wird oft als Wegwerfmode bezeichnet. Der Begriff wird vor allem verwendet, um die schlechte Qualität oder die Schnelllebigkeit von Trends und den viel zu häufig wechselnden Kollektionen zu kritisieren - und das zurecht. Jedes Jahr werden weltweit über 80 Milliarden Kleidungsstücke hergestellt. Nach einer kurzen Lebensdauer werden drei von vier Teilen weggeworfen.1 Doch was bedeutet eigentlich “weg”?

Liz Ricketts, Co-Gründerin der OR-Foundation, formuliert treffend: “There is no away”, d.h. ein “weg” gibt es nicht. Die Kleidung, die wir in Europa, den USA und Australien nach einer meist recht kurzen Gebrauchsspanne entsorgen, landet in etwa 70 Prozent der Fälle in Ost- und Westafrika.2

"There is no away.”

Liz Ricketts, The OR Foundation

Was das konkret bedeutet, zeigt sich auf dem Kantamanto-Markt in Accra, der Hauptstadt Ghanas: 15 Millionen Kleidungsstücke überschwemmen jede Woche aufs Neue den Kleidermarkt der Stadt. Kantamanto ist zwar der größte, aber dennoch nur einer von vielen Märkten dieser Art in Ghana, einem Land, in dem 30 Millionen Menschen leben. Obroni w’awu hat man dort die ankommende Kleidung zunächst genannt, Kleidung des toten weißen Mannes.3 Um solche Kleiderberge zu hinterlassen, musste schließlich jemand gestorben sein. Dass man gut erhaltene Hosen, Hemden und Pullover nicht mehr trug, nur weil sie nicht mehr en vogue waren, konnte man sich zu Beginn der Importe in den 1980er Jahren schlichtweg nicht vorstellen.

Seitdem haben sich nicht nur die Mengen an Altkleidung, die den Kantamanto-Markt erreichen, stark vervielfacht. Gleichzeitig ist die Qualität der ankommenden Ware immer schlechter geworden. Von den 15 Millionen Kleidungsstücken, die wöchentlich eintreffen, sind schätzungsweise 40 Prozent nicht mehr brauchbar. Das entspricht sechs Millionen Kleidungsstücken in der Woche,4 die direkt auf den umliegenden Mülldeponien landen - die offiziell bereits seit einigen Jahren wegen Überfüllung geschlossen sind. Deshalb enden viele Textilien auch in Flüssen und der umgebenden Natur oder werden in offenen Feuern verbrannt. Dabei sind mittlerweile bis zu 69 Prozent der in Kleidung verwendeten Fasern synthetisch, also aus einem nicht biologisch abbaubarem Kunststoff. Diese Mikroplastikfasern gelangen so nicht nur in die Umwelt, sondern auch in die menschliche Nahrungskette.5

Die Pandemie hat die Absurdität der gesamten Textilwertschöpfungskette noch einmal deutlicher vor Augen geführt. Tausende Textilarbeiter*innen wurden nicht für bereits getane Arbeit bezahlt, weil die Verbraucher*innen nicht mehr in die Läden durften. Eine halbe Milliarde unverkaufter Kleidungsstücke blieben dadurch in den Geschäften liegen.6 Der Export bleibt für westliche Länder nach wie vor die billigste Lösung, um Textilmüll loszuwerden. “Eine enorme Verschwendung, wenn man bedenkt, mit wie viel Ressourcen und Energieaufwand die Kleidung hergestellt und um die Welt transportiert wurde.”7

Träger*innen des Systems

Vermischt mit alter, verschmutzter und untragbarer Ware kommt auch die aussortierte Neuware in Kantamanto an. Auf dem Markt ist ein eigenes Wirtschaftssystem entstanden, das versucht, den Abfall der westlichen Welt profitabel zu machen. Entgegen häufiger Annahme wird die Kleidung dort nämlich nicht gespendet, sondern an Händler*innen weiterverkauft, und das nicht gerade günstig. Zwischen 75 und 400 Dollar kostet ein Ballen Altkleidung. Mit der abnehmenden Qualität der Kleidung wird es für die Händler*innen immer schwieriger, diese Kosten durch den Verkauf wieder reinzubekommen. Bevor man einen Ballen aufschneidet, weiß man nämlich nicht, wie viel brauchbare Ware darin enthalten ist, und wie viel direkt in den Müll kommt. Viele beschreiben ihren Job deshalb als Glücksspiel.8 Aufgrund der Geschwindigkeit, mit der neue Lieferungen an Altkleidern in Kantamanto eintreffen, erwarten die Kund*innen mindestens zwei Mal in der Woche neue Ware. Kleidungsstücke und Schuhe, die eine Woche nach dem Öffnen des Ballens nicht verkauft worden sind, gelten bereits als unbrauchbar.9 Während die meisten Händler*innen zwar über das nötige Geld für Lebensmittel und öffentliche Verkehrsmittel verfügen, bleiben Lebenshaltungskosten wie Strom, Schulgeld für die Kinder oder Telefonkosten für viele ein Luxus.10

Neben den Händler*innen wird dieses Handelssystem von den Kayayei getragen - und zwar im wörtlichen Sinne. Kayayei sind meistens Frauen, die die eta 50 Kilo schweren Textilballen auf ihren Köpfen durch die engen Gassen des Marktes transportieren, “vom Importeur zum Einzelhändler, vom Einzelhändler zum Lagerhaus, vom Einzelhändler zum Verbraucher und so weiter.”11 Es gibt keine andere Möglichkeit des Transports durch die überfüllten Gänge. Viele der Frauen tragen dabei nicht nur die Kleiderballen auf ihren Köpfen, sondern auch ihre Babys um die Brust. An Kinderbetreuung während der Arbeit ist hier nicht zu denken. Es macht sprachlos, ihre Geschichten zu lesen.

Aufrechterhaltung historischer Kolonialisierungspraktiken

Der exzessive Import von Mitumba, wie die Altkleider-Ballen in Kisuaheli genannt werden,12 erstickt außerdem die Textilindustrie vor Ort. Keine lokale Produktion kann mit dem rasanten Tempo der Importe und den dadurch entstehenden Trends mithalten. “Daher hat sich die Ostafrikanische Gemeinschaft 2016 auf ein vollständiges Importverbot von Altkleidern bis 2019 geeinigt.”13 Von den USA umgehend mit angedrohten Handelsstrafen angefochten, wurde dieses Importverbot jedoch nie richtig umgesetzt.14

Spätestens daran offenbart sich, dass durch den Handel mit Altkleidung historische Kolonisierungspraktiken aufrechterhalten werden. “Nationen mit hoher Wirtschaftsleistung nutzen ihr Privileg und ihre Macht aus, um ihre Ziele zu erreichen, während sie das Recht auf saubere und sichere Lebensbedingungen von Gemeinschaften mit niedrigem Einkommen untergraben.”15 Das Problem von Überproduktion und Überkonsum wird seit Jahrzehnten erfolgreich mit dem Märchen kaschiert, mit den Exporten einkommensschwachen Ländern zu helfen. Nicht alle haben das Märchen geglaubt, aber die meisten haben sich nicht weiter dafür interessiert.

Und nun, beobachtet Liz Ricketts wieder treffend, in einer Zeit, in der sich die Modebranche einen grünen Anstrich geben will und über Kreislaufwirtschaft diskutiert, werden Orte wie der Kantamanto-Markt wiederentdeckt - und zur “Goldmine” gemacht.16 Abfall sei nicht länger Abfall, sondern eine Ressource, ein Nährstoff, eine Chance. In dem neuen Märchen, das uns Marketingkampagnen nun erzählen, ist Abfall plötzlich schön. Er entwickelt sich vom Problem zu dessen eigener Lösung.17

Dabei spart Kleidung aus recycelten Textilien im Vergleich zu Neuware lediglich zehn Prozent des CO2-Ausstoßes ein. “Denn auch recycelte Faser muss gesponnen, gewebt, gefärbt, genäht und transportiert werden.”18 Darüber hinaus wird die Kreislaufwirtschaft per se nichts gegen das koloniale Erbe ausrichten, auf dem die Modeindustrie in ihrer jetzigen Form aufgebaut ist. Experten hoffen stattdessen auf Vorschriften zur Haltbarkeit eines Kleidungsstücks. Zum Beispiel, wie viele Waschgänge es überstehen muss oder wie oft man es tragen kann, bevor es kaputtgeht. “Dann steigen Qualität und Preise automatisch”19 - und damit vielleicht endlich auch die Wertschätzung der Kleidung, die man bereits besitzt.

 

Text: Kathrin Weins

Illustration: © Tanya Teibtner

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